Autor: ÖUG Präsident, Univ.-Prof. Mag. Dr. Alois Woldan

 

In einer Situation, da die Ukraine einmal mehr in ihrer Existenz bedroht ist von einem Aggressor, der ihr immer schon und immer wieder das Recht auf Eigenständigkeit, sei es als Volk, sei es als Staat absprach, macht es Sinn sich auf jene Komponenten der ukrainischen Geschichte zu besinnen, die immer schon die Verbindung der ukrainischen Kultur zu Europa, spezielle zu dessen Mitte, hergestellt haben und so auch die Zugehörigkeit der Ukraine zu Europa unter Beweis stellen. Die folgenden Erwägungen stellen keinen Anspruch auf Vollständigkeit dar, sie sind vielmehr ein Versuch, an jene oft wenig bekannten Momente der ukrainischen Geschichte zu erinnern, die für die dieses Land spezifisch sind und es damit vom östlichen Nachbarn unterscheiden. Während der „Große Bruder“ im Osten, neben seiner brutalen Politik der Unterdrückung und Vernichtung, immer wieder die Gemeinsamkeit zwischen Russland und der Ukraine ins Treffen führt, könnten die Freunde und Verbündeten im Westen vermehrt von diesen Argumenten Gebrauch machen, welche die Verschiedenheit der beiden Völker und Kulturen vor Augen führen.    

Immer schon wurde die Ukraine als ein Land zwischen dem europäischen Westen und dem europäischen Osten1Vgl. Andreas Kappeler, Die Ukraine zwischen Ost und West. Überlegungen eines Historikers, in: Sprache und Literatur der Ukraine zwischen Ost und West / Мова та література України між сходом і заходом. Hg. v. J. Besters-Dilger, M. Moser, St. Simonek, Bern-Berlin-Bruxelles et al.: Peter Lang, 2000, S. 9-15., zwischen Rom und Byzanz2Vgl. Eduard Winter, Byzanz und Rom im Kampf um die Ukraine 955-1939, Leipzig: Harrassowitz 1942., wahrgenommen und hat sich auch selbst so verstanden. Seit gut einem halben Jahrhundert hat es die Mitteleuropa-Debatte3Vgl. dazu Emil Brix, Erhard Busek, Projekt Mitteleuropa, Wien: Ueberreuter 1986. Eine Neuauflage dieses Buchs erschien erst vor kurzem: Emil Brix, Erhard Busek, Central Europe Revisited; Why Europe´s Future Will Be Decided in the Region, London-New York: Routledge 2022. unternommen, diese Dichotomie aufzuweichen und ein drittes Europa zu postulieren, das zwischen dem Westen und dem Osten, oder besser in einem Raum, in dem sich diese beiden überschneiden, zu situieren ist. Als man den Mitteleuropa-Begriff in die Diskussion einbrachte, war Europa politisch noch in zwei Blöcke geteilt, einen Ost- und einen Westblock, die durch einen Eisernen Vorhang getrennt waren; die Mitteleuropa-Bewegung wollte diese Trennung unterlaufen und suchte nach Gemeinsamkeiten zwischen den Ländern östlich und westlich dieses Vorhangs. Dabei griff man vermehrt auf die Geschichte jener Staaten zurück, die zu diesem Zeitpunkt im Ostblock lagen, vorher aber nie dazu gehört hatten. Es macht Sinn, unter diesem Blickwinkel auch die Ukraine zu betrachten, die sich zwar seit den Teilungen Polens zum Großteil im Zarenreich und dann im Sowjetimperium, also im Osten Europas, befand, die aber in ihrer Geschichte eine ganze Reihe fester Beziehungen nach Westeuropa aufweist und daher mit gutem Recht als ein mitteleuropäischer Staat zu qualifizieren ist.

Schon die Kievskaja Rus´ hatte mit den Fürstentümern Halyč und Volodymyr eine südwestliche Flanke, die spätestens mit dem Fall von Kyjiv 1240 deutlich nach Westen orientiert und in die Geschichte seiner Nachbarn Ungarn und Polen miteinbezogen ist. Das macht die Chronik dieser Ländereien, die bekannte Halyc´ko-Volyns´ka litopys, deutlich, die auf ihren Hauptprotagonisten, den Fürsten und späteren König Danylo Romanovyč, zugeschnitten und eigentlich mehr Heldenbiographie als traditionelle Chronik ist. Schon die Krönung dieses Fürsten durch päpstliche Legaten, die ihn zum einzigen von Rom gekrönten ostslawischen Fürsten machte, stellt ein Argument für den mitteleuropäischen Charakter der Ukraine dar. Diese Chronik schildert nicht nur Danylos Jahre am ungarischen Hof, sie kennt auch sog. „österreichische Episoden“, welche den ukrainischen Fürsten in direkten Kontakt mit dem späteren Habsburgerreich bringen. An der Seite des ungarischen Königs Bela IV. versucht Danylo nach dem Tod des letzten Babenbergers in den Streit um das Babenbergische Erbe, die Herzogtümer Österreich und Steiermark, einzugreifen. Sie zeigt den Fürsten neben dem ungarischen König in «Пожгъ», womit wohl Poszon/ Bratislava/ Preßburg gemeint ist, die damalige Hauptstadt Ungarns, wo er «посли нѣмѣцкыи» „deutsche Boten“, Abgesandte des böhmischen Königs Otokar Přemysl II., eines Mitstreiters um dieses Erbe, empfängt. An der Spitze dieser Gesandtschaft steht ein Bischof, «пискупъ Жалошьпурьскыи, рекомыи Сольскыи», also der “episcopus Salisburgiensis“, der zu jener Zeit ja Bündnisgenosse des böhmischen Königs war. Dann aber folgt eine ausführliche Beschreibung des ukrainischen Fürsten Danylo, die zur Folge hat, dass „die Deutschen, die ihn erblickten, sehr ins Staunen gerieten“ («Немцем же зрящимъ, много дивящимся»)4Zitate nach Галицко-волынская летопись, в: Памятники литературы древней Руси. XIII век. Москва: Художественная литература 1981, с. 320, 321.. Es kommt damals sogar zu einer Heirat eines ukrainischen Fürsten mit einer österreichischen Prinzessin, Danylos Sohn Roman wird mit Gertrud, der Nichte des letzten Babenbergers vermählt. Die Chronik berichtet von dieser Ehe, nicht aber vom weiteren Schicksal dieses Paares. Ein galizisch-ukrainischer Gelehrter des späten 19. Jahrhunderts, Izydor Szaraniewicz, hat als erster diese Chronik ausführlich auf ihre mitteleuropäischen Bezüge untersucht und deren Angaben durch den Vergleich mit ungarischen und polnischen Chroniken verifiziert.5Izydor Szaraniewicz, Die Hypatios-Chronik als Quellen-Beitrag zur österreichischen Geschichte. Lemberg: Dobrzański 1872.

Danylo ist auch der Gründer der Stadt L´viv (1265), die er zu Ehren seines zweiten Sohnes Lev benannte und die für den mitteleuropäischen Charakter der Ukraine von großer Bedeutung ist. Hier sei zunächst einmal darauf hingewiesen, dass der ukrainische Stadtgründer deutsche Kolonisten ins Land rief, die nicht nur Fachleute in bestimmen Wirtschafszweigen, sondern auch mit diversen Formen einer deutschen Verwaltung vertraut waren. Józef Bartłomiej Zimorowic, der erste Chronist der Stadt Lemberg, bezeichnet die zweite Phase der Stadtentwicklung als „Leopolis teutonica“6Vgl. Leopolis triplex, in: Korneli Heck (Hg.), Józefa Bartłomeja Zimorowicza pisma do dziejow Lwowa odnoszące się, S. 1-215, Lwów: Nakł. Gminy Król. Stol. Miasta Lwowa 1899. , die bis ins 15. Jhd anhält, in dem dann die Zeit der „Leopolis polonica“ beginnt. In polnischer Zeit wird die Stadt auch mit dem Magdeburger Stadtrecht ausgestattet, was eine Selbstverwaltung der Stadt durch die Bürger in Form gewählter Stadträte vorsah. Eine solche Struktur, über die auch einige wenige andere Städte der Westukraine verfügten, schloss Formen demokratischer Mitbestimmung ein – sie ist für den Osten Europa völlig a-typisch, in Mitteleuropa aber war sie gang und gäbe.

Aus der Westukraine, die wie bekannt seit 1360 Teil der polnischen Krone ist, stammen auch die ersten ukrainischen Gelehrten, die am Netzwerk des europäischen Humanismus partizipierten. Zu ihnen gehört Jurij Kotermak (Jurij z Drohobycza, Georgius Drohobicz de Russia, 1450-1494), Astronom, Mathematiker und Mediziner, der an der Universität Krakau studiert hatte, bevor er seine Studien auch in Bologna fortsetzte und sogar ein Jahr lang Rektor dieser renommierten europäischen Universität war. Er starb in Krakau.7Zur Biographie vgl. Ярослав Ісаєвич, Юрий Дрогобич, Київ: Молодь 1972. Mit seiner astrologischen Vorschau auf das Jahr 1483, Judicium prenosticon Annis 1483 Currentis, verfasste er das erste Buch eines ukrainischen Autors in lateinischer Sprache. Er ist sogar in die ukrainische Belletristik eingegangen.8Ніна Бічуя, Дрогобицький звіздар, Київ: Радянський письменник 1970.

Die Universität Krakau (gegründet 1384) war aber auch Wirkungsstätte anderer westukrainischer Gelehrter, deren Herkunft nur aus dem Beinamen „Ruthenus“ erkenntlich ist. Jan z Turobina (Ioannes Turobinus Ruthenus, 1511-1575), war an der Krakauer Universität Professor für kanonisches Recht und verfasste ein Standardwerk dazu: Enchiridion iuris pontificeii er caesareis (1537);9Vgl. zur Biographie Stanislaw Oczkowski-Kotowicz, Jan z Turobina (1511-1575), in: Polski Slownik biograficzny T. X, Wroclaw et alia: Ossolineum 1962-1963, s. 487- 490. Der Verfasser geht allerdings nicht auf die Bedeutung des Beinamens „Ruthenus“ ein. er war einmal auch Rektor seiner Universität und schrieb einige wenige Gedichte, darunter ein Lobgedicht auf die Stadt Lemberg.10Vgl. Jerzy Axer, Drobiazgi poetyczne Jana z Turobina, „Meander” 1974, nr. 1, S. 40-43. In keiner Anthologie neolateinischer Dichter aus Polen darf Paweł z Krosna fehlen, der seine Werke in der Regel mit Paulus Crosniensis Ruthenus zeichnet. Während für die polnischen Philologen die Bezeichnung „Ruthenus“ geographisch, als Hinweis auf seine Herkunft aus Województwo Ruskie, verstanden wird,11Vgl. Albert Gorzkowski, Pawel z Krosna. Humanistyczne peregrynacja krakowskiege profesora, Kraków: Ksiegarnia Akademicka 2000, s. 50. sieht die ukrainische Philologie in ihm auch einen ethnischen Ruthenen.12Vgl. Мирослав С. Трофимук, Латиномовна література України XV-XIX ст. Жанри, мотиви, ідеї, Львів: ЛНУ ім. Івана Франка 2014, с. 76-84. Ohne hier diesen Unterschied in den Auffassungen entscheiden zu wollen, stellt auch Paulus Ruthenus mit seinem neolateinischen Werk ein Bindeglied zur humanistischen Tradition des Mittelmeerraums dar, eine Funktion, die nicht ohne die vermittelnde Funktion der Krakauer Universität denkbar gewesen wäre.

Von einer ruthenischen Identität lässt sich zweifellos im Fall des berühmten Publizisten und Literaten Stanisław Orzechowski (ukr. Orichovs´kyj)13Zu den zahlreichen Arbeiten polnischer Wissenschaftler über Orzechowski kommen seit einigen Jahren auch Beiträge ukrainischer Philologen, wie Петро Сас, С. Оріховський, Й. Верещинський: політико-правові концепції державного устрою, в: Studia Polsko-Ukraińskie 1: Ukraina-Polska: Dziedzictow historyczne i świadomość społeczna, Kijów-Przemyśl 1993, s. 62-68; Trofymuk, op. cit, s. 215-225. sprechen, der bereits zu den bedeutendsten zweisprachigen, lateinisch-polnischen Autoren des 16. Jahrhunderts gehört. Diese Affinität zur ukrainischen Herkunft kommt auch in dem berühmten, ihm zugeschriebenen Dictum „natione Polonus, gente Ruthenus“ zum Ausdruck. In der Nähe von Przemyśl geboren, hat der Sohn einer ruthenischen adeligen Familie eine Karriere in der polnischen Rzeczpospolita gemacht, die ihn auch für lange Jahre ins westliche Ausland, nach Deutschland und vor allem Italien führte. Seine Bekanntschaft mit deutschen Reformatoren wie auch italienischen und polnischen Humanisten lassen ihn zu einem wichtigen Vermittler zwischen westeuropäischem Gedankengut und byzantinischer religiöser Tradition (vgl. seine Schrift De baptismo Ruthenorum, 1544) werden. Die Zweisprachigkeit des älteren ukrainischen Schrifttums,14Vgl. dazu Євген Нахлік, Багатомовність української літератури, в: Eugeniusz Czaplejewicz, Edward Kasperski (Hg.), Literatura a heterogeniczność kultury. Poetyka i obraz świata, Warszawa 1996, s. 71-78. auch wenn sie wie Fall Orzechowskis keine Tätigkeit in ukrainischer Sprache miteinschließt, stellt in jedem Fall ein Argument für den mitteleuropäischen Charakter der Ukraine dar. Weitere zweisprachige Autoren des 16. und 17. Jahrhunderts, wie Sebastian Fabian Klonowicz (1545-1602) oder der bereits erwähnte Józef Barlomiej Zimorowic (1597-1673), die ihren festen Platz in der polnischen Literaturgeschichte haben, könnten hier genannt werden, sie tragen mit ihren lateinischen Texten wie Klonowic´ Roxolania (1584) oder Zimorowic´ Leopolis triplex wesentlich zur Verbreitung der Kenntnisse über die Westukraine bei. Zwei- und Mehrsprachigkeit, die sich auch bei „rein“ ukrainischen Autoren des 16. und 17. Jhds. findet, ist per se schon ein Hinweis auf eine kulturelle Osmose, welche im Bereich des polnisch-ukrainischen Pogranicze besonders deutlich zu beobachten ist.15Vgl. Janusz Pelc, Europa Środkowa i wschodnia jak teren przenikania i wzajemnego oddziaływania różnych kultur, in: Barok w Polsce i w Europie Sródkowo-Wschodniej. Drogi przemian i osmozy kultury, Warszawa 2000, s. 13-35, hier: 24ff.

Auch als es keine ukrainischen Fürstentümer mehr gibt und diese schon gut hundert Jahre im polnischen Staat aufgegangen sind, kommt es dort, einem Gebiet, das man heute gern und zurecht als polnisch-ukrainisches Pogranicze, bezeichnet, zu einer „Ersten Wiedergeburt“ der ukrainischen Kultur. Schon dieser Begriff, vom Nestor der ukrainischen Historiographie, Mychajlo Hruševs´kyj, geprägt, verweist auf die europäische Tradition der Renaissance, die im polnischen Staat in einer äußerst aktiven Weise rezipiert wurde. Das erste Zentrum dieser Wiedergeburt ist Ostrih/Ostróg, und in ihrem Zentrum steht der Fürst Kostjantyn Ostroz´kyj (1527-1608), einer der reichsten und mächtigsten Männer der Rzeczpospolita, Wojewode von Kyjiv und Marschall von Wolhynien.16Zur Biographie Ostroz´kyjs vgl. Л.Б., Острозький Василь-Костянтин, в: Енциклопедія Українознавства. Перевиданна в Україні. Т. 5, Львів: Молоде життя 1996, с. 1901;Tetiana Shevchenko, The Uncrowned Kings of Ruthenia and Jesuits. Kostiantyn Vasyl´ Ostroz´kyj against Piotr Skarga (1577-1608), in: „Revue d´Histoire Ecclésiastique“, 01 March 2010, Vol. 105(1), pp. 74-120. Aus einer alten ruthenischen Familie stammend, war er ein überzeugter Anhänger der Orthodoxie, die er nach der Union von Brest 1596 mit allem ihm zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigte. Schon 1577 hatte er in seiner Residenz eine Akademie gegründet, an der bedeutende Lehrer unterrichteten, wie etwa Herasym Smotryc´ kyj, der wahrscheinliche Verfasser des berühmten Ljament na dom knjažat Ostroz´kych (1603), und dessen noch berühmterer Sohn Meletij (1578-1633), Verfasser zahlreicher polemischer Schriften um die Union und auch der ersten ostslawischen Grammatik, Hramatyki Slavenskyja pravilnoe syntagma (1619). Bei der Schule hatte der Fürst auch eine Druckerei eingerichtet, in der der aus Moskau vertriebene Ivan Fedorov die erste vollständige slawische Bibelübersetzung druckte, die sog. Ostroz´ka Biblia (1581). Auf der Rückseite des Titelblatts dieser Bibel findet sich auch ein Wappenspruch, eine emblematische Dichtung zum Ruhm des Fürsten. Emblemata auf das Wappen von Fürsten, sei es panegyrischen, sei es paränetischen Charakters, finden sich in den Drucken der Ostroher Druckerei mehrmals,17Vgl. Alois Woldan, Heraldische Dichtung im polnisch-ukrainischen Grenzraum, in: Kulturen verbinden. Connecting Cultures. Сближая культуры. Festband anlässlich des 50-jährigen Bestehens der Slawistik an der Universität Innsbruck (Slavica Aenipontana 16), Innsbruck: Innsbruck university press 2021, S. 115-154, hier: 118-127. auch diese Gattung ist ein typisch mitteleuropäisches Phänomen, das seine größte Verbreitung in der polnischen Literatur der Renaissance hat (vgl. die großen Sammlungen von Bartosz Paprocki, Gniazdo cnoty und Herby Rycerstwa Polskiego).

Heraldische Dichtung ist auch typisch für das zweite Zentrum der ukrainischen Wiedergeburt, Lemberg, das um die Wende von 16. zum 17. Jhd. einmal mehr ins Zentrum der Entwicklung der ukrainischen Kultur tritt.18Vgl. Mychajlo Voznjak, Geschichte der ukrainischen Literatur. Übersetzung ins Deutsche: Katherina Horbatsch Bd. II: 16.-18. Jhd. Erster Halbband, Giessen: Schmitz 1975, S 68-80. Schon seit 1463 besteht die Lemberger Bruderschaft,19Vgl. Оксана Матковська, Львівське братство: Культура і традиція. Кінець XVI – перша половина XVII ст., Львів: Каменяр 1996. die älteste von allen in der Westukraine bestehenden Bruderschaften, die 1593 die Rechte einer Stauropegie, d.h. die direkte Unterstellung unter die Jurisdiktion des Patriarchen von Konstantinopel erhält. Auch die Institution einer Bruderschaft, in der engagierte Laien sich ebenso um kirchliche wie um kulturelle Belange kümmern, ist typisch für West- und Mitteleuropa und stellt einmal mehr einen Beweis für den europäischen Charakter der ukrainischen Kultur dar. Nicht mehr der Fürst ist es, der wie in Ostrih das kulturelle Leben seines Fürstentums bestimmt, sondern eine Zahl von vermögenden Bürgern, Ukrainern, die in einer immer mehr polonisierten Stadt die kirchlichen und kulturellen Anliegen der eigenen nationalen Gruppe verfechten. Die Lemberger Bruderschaft hat auch sehr bald eine eigene Schule gegründet, die mit den Unterrichtssprachen Kirchenslawisch (ukrainischer Redaktion) und Griechisch ein deutliches Pendant zur lateinischen Domschule, aber auch den um diese Zeit entstehenden Jesuitenkollegs darstellte. Prominente Lehrer wie Jurij Rohatynec, Kyrylo Trankvilion Starovec´kyj und Lavrentij Zyzanij waren Lehrer an dieser Schule, sie alle haben einen gewichtigen Platz in der Geschichte des älteren ukrainischen Schrifttums. Schließlich erbaute die Bruderschaft ihre Kirche, die Uspens´ka cerkva, von einem italienischen Renaissance-Architekten, Paolo Romano, entworfen.20Vgl. zur Baugeschichte der Kirche: Josef Piotrowski, Lemberg und Umgebung. Handbuch für Kunstliebhaber und Reisende, Lemberg: H. Altenberg, 1916, S. 112-117. Zusammen mit dem nebenan errichteten Campanile, nach seinem Stifter, dem griechischen Kaufmann Kornjakt benannt, dominiert sie bis heute die Silhouette der Stadt.

Zurück aber zur literarischen Produktion der Stadt Lemberg in ukrainischer Sprache um 1600, die aus der Druckerei der Bruderschaft stammte. 1591 wird dort für die Bedürfnisse der Schüler der Bruderschaftsschule eine kirchenslawisch-griechische Grammatik, AΔΕΛΦOΤΗΣ. Грамматіка доброглаголиваго еллинословенскаго языка, gedruckt, die wahrscheinlich von Arsenios v. Elason, einem Lehrer für Griechisch an dieser Anstalt, verfasst wurde.21Vgl. Voznjak, op. cit. S. 75. Auf der Innenseite des Einbands findet sich ein emblematischer Text, ein Spruch auf das Wappen der Stadt, der von einer griechischen Überschrift, die im Emblem die Funktion der Inscriptio hat, eingeleitet wird. Der Text verweist in gleicher Weise auf die ukrainische Geschichte der Stadt (der Name ihres Fürsten, Lew, wir in einem komplexen Konzept entfaltet), wie auch auf deren Bedeutung für die (orthodoxe) ruthenische Christenheit.22Eine Reproduktion dieses Emblems findet sich in Я.М. Запаско, О.Я. Мацюк, Львівські Стародруки. Kнигознавчий нарис, Львів: Каменяр 1983, с. 24. Zur ausführlichen Interpretation dieses Wappenspruchs vgl. Alois Woldan, Polyphonie im Stadttext von Lemberg in der Frühen Neuzeit, in: „Prace Polonistyczne, seria LXXVI“, 2021, s. 397-422, hier: 400-402. Das Griechische im Text ist ein weiterer Hinweis auf die „griechische“, d.h. orthodoxe Form des Glaubens der Lemberger Ukrainer – die Bruderschaft hatte sich nach 1596 vehement gegen die Union ausgesprochen.

Ein anderer Text aus dem Kreis der Lemberger Bruderschaft um 1600 weist eine ganz andere Intention auf – nicht mehr der Stolz auf die ruthenische Tradition der Stadt, sondern die Klage gegen eine Übermacht der polnischen Handwerker dominiert die Petition, die von ruthenischen Delegierten auf dem Sejm 1609 an den König gerichtet wird.23Diese Lamentatio war die Vorrede zu einer umfangreicheren „Instrukcija“, die den Lemberger Delegierten nach Warschau mitgegeben wurde. Vgl. Мирон Капраль, Соціальні і національно-конфесійні конфлікти. W: Історія Львова у трьох томах. Т. 1: 1256-1772. Львів: Центр Європи, 2006, c. 130–140. Der vollständige Text dieser Instruktion findet sich in Історія Львова в докментах і матеріалях. Збірник документів і матеріалів,Kиїв: Наукова думка, 1986, c. 67-71. Der Titel dieser Bitte, Лямент албо мова до короля єго милости, verweist auf eine Gattung, die zwar häufig in der europäischen Literatur der Renaissance zu finden, in diesem Fall aber ungewöhnlich ist – üblicherweise ist die „Lamentatio“ Personen vorbehalten, die bereits gestorben sind. Hier aber handelt es sich um die Klage einer bestimmten Gruppe, die bei weitem nicht tot, sondern sehr lebendig ist und um ihre Rechte kämpft. Dieser Text ist also eher eine Bittschrift, eine Supplicatio, die mit einem bekannten Topos, der multinationalen Bevölkerung der Stadt Lemberg, beginnt:

Лямент албо мова до короля єго милости.

Наяснейший милостливый кролю! Чтырей народов в самом мурѣ мѣста Лвова сут фундованы, которыє и тераз помешканя свои, так теж костелы, церкви, и навет божницѣ свои жидове мают, то ест напрод старожитный натуральный народ наш Pуский мает свое вѣчум и церков набоженства своего во Лвовѣ.

З тым Полский, Орменъский и Жидовский. Полский народ веспол з Руским едного суть права и едны онера носят. Орменский зас свой особый, и Жидове потем свой особный ряд и присуд мають.24Грушевський, Михайло, Історія Української літератури T. VI. Reprint, Київ: Обереги 1995, c. 15.

Auf diese Bestandsaufnahme, die auch die autonomen Einrichtungen dieser vier ethnischen Gruppen schildert (Gotteshäuser, Gerichtsbarkeit, Selbstverwaltungsorgane), folgt ein deutlicher Hinweis auf die Gleichberechtigung von zwei dieser vier Gruppen: „Полский народ веспол з Руским едного суть права и едны онера носят“. Wer die gleichen Lasten für das Gemeinwohl trägt, muss auch gleiche Rechte haben, die aber den Ruthenen von der polnischen Mehrheit in den Zünften verwehrt werden. Diese Form der Benachteiligung wird im Text als eine Art Ausrottung dargestellt und mit der Unterdrückung der biblischen Juden in der ägyptischen Knechtschaft verglichen:

Утяжени естесмо мы, народ Руский, от народа Полского ярмом над Єгипъскую неволю, же нас леч без меча, але горѣй нѣж мечем с потомствы выгубляют, заборонивши нам пожитков и ремесел обходов вшелаких, чим бы толко человѣк жив быти могл, того неволен русин на прирожоной земли своей Руской уживати, в том то руском Лвовѣ.25Ibidem.

Die Hinweise auf das Alte Testament erinnern zum einen an den Ursprung der Gattung, die „Lamentationes Jeremiae“, und zum anderen an eine Sicht, welche die Betroffenen mit dem auserwählten Volk vergleicht. Sie sollen die Berechtigung der Klage unterstreichen. Die Unfreiheit der Ruthenen auf ihrem angestammten Boden, „на прирожоной земли своей Руской“, ist ein Unrecht, das quasi zum Himmel schreit.26Zur ausführlicheren Analyse dieser Lamentatio vgl. Woldan, Polyphonie im Stadttext von Lemberg in der Frühen Neuzeit, 403-405.

Dieser Text ist zweifellos ein Zeugnis dafür, dass das Zusammenleben verschiedener ethnischen Gruppen in Lemberg, vor allem was Polen und Ukrainer betrifft,  bei weitem nicht immer harmonisch war; zugleich gab es aber auch eine Instanz, wo man seine Rechte einfordern konnte, den Sejm und den König der Rzeczpospolita. Der Kampf mit legalen Mitteln um bürgerliche Rechte ist typisch für auch für andere städtische Kommunen in Mitteleuropa, er stellt ein weiteres Element dar, dass die Zugehörigkeit der Ukraine zu diesem Raum unterstreicht.

Der Kampf um die eigenen Rechte konnte von den Ruthenen aber in der eigenen Sprache geführt werden, man brauchte nicht die Sprachen der Mehrheit, Polnisch oder Latein, zu verwenden.27Zur sprachlichen Vielfalt in Lemberg um 1600 vgl. Andrzej Janeczek, Urban Communes, Ethnic Communities and Language Use in Late Medieval Red Ruthenian Towns, in: Use of the Written Word in Medieval Towns. Medieval Urban Literacy II. 2014. Ed. by Marco Mostert and Anna Adamska. Turnhout: Brepols 2014, S. 19–35. Die Sprache dieses Texts selbst, die „prosta mova“,28Zur „prosta mova“ vgl. Michael Moser = Михаэл Мозер, О «простой мове», в: Ю. Будрайтис, Этнокультурые и этноязыковые контакты на территории Великого княжества литовского. Материалы международной конференции, Москва 2006, с. 112-130. ist auch ein Beispiel für Anleihen bei den mitteleuropäischen Nachbarn: man schreckt nicht vor zahlreichen Polonismen und Latinismen zurück, um die eigenen Anliegen zu formulieren. Der Code dieser Mischsprache, die sich allerdings auf dem Weg zur Entwicklung einer modernen Literatursprache nicht behaupten konnte, verweist auf die Hybridität als Kehrseite der Vielsprachigkeit – beide diese Phänomene sind typisch für den Austausch im Bereich des polnisch-ukrainischen Pogranicze.

Nach Ostrih und Lemberg wird Kyjiv zu einem dritten Zentrum der ukrainischen Kultur der frühen Neuzeit,29Vgl. Voznjak, op. cit., S. 95-107. was mit dem Aufstieg des Höhlenklosters unter seinem Abt Jevhenij Pletenec´kyj, der Gründung einer Schule durch die Kyjiver Bruderschaft, vor allem aber mit der Person und dem Wirken des späteren Metropoliten, Petro Mohyla (1596-1647) zusammenhängt. Vor allem durch seine Schulgründung beim Höhlenkloster, die wenig später mit der Bruderschaftsschule zusammengelegt wurde, legte Mohyla den Grundstein für die nach ihm benannte Kiever Mohylanische Akademie (ab 1632), die erste höhere Lehranstalt auf ostslawischen Boden, deren Bedeutung nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Im selben Jahr hatte Mohyla an der Spitze einer orthodoxen Delegation auf dem Konvokations- sejm nach dem Tod Sigismunds III. und darauf durch direkte Intervention beim neuen König neue Rechte für die Orthodoxen, darunter auch die Rückgabe von Kirchen wie der Sophienkathedrale, die unter seinem Vorgänger an die Union gefallen waren, erwirkt.30Vgl. Николай Костомаров, Киевский метрополит Петр Могила, в: idem, Русская исторiя в жизнеописанiяхъ ея главнѣйшихъ дѣятелей. Второй отделъ: господство дома Романовыхъ ло вступленiя на престоль Екатерины II. Вып. Четвертый. XVII cтолѣтiе, С.-Петербург: Типографiя М.М. Стаслюлевича 1874, с. 59-95. In seinem Wirken als Kirchenoberhaupt, Theologe und Schulgründer kann Mohyla zu Recht als „Mann des Dialogs“31Ryszard Łużny, Metropolita Piotr Mohyla – człowiek dialogu na pograniczu kulturowym grecko-słowiańskim i lacińsko-polskim, in: Acta Polono-Ruthenica 1, 1996, Olsztyn: WSP, s. 333-348. zwischen Ost und West, zwischen der griechisch-slawischen und der lateinisch-polnischen Welt und damit als eine Persönlichkeit mitteleuropäischen Zuschnitts angesehen werden.

Ähnliches lässt sich von dem von ihm begründeten Kollegium, der späteren Akademie, sagen, die nach dem Modell spätscholastischer west- und mitteleuropäischer Universitäten organisiert war. Latein und Polnisch spielten im Unterrichtsprogramm eine ebenso wichtige Rolle wie die Kenntnisse der europäischen Philosophie des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Auch wenn das bisweilen zu Konflikten und Widersprüchen mit der Leitidee dieser Lehranstalt, die zur Verteidigung der Orthodoxie ins Leben gerufen wurde, stand, kann die Kiever Akadmie dennoch als eine „Brücke zu Europa im 17. Jhd“ gesehen werden. Leitidee dieser Lehranstalt,32Vgl. Оксана Пахльовська, Києво-Могилянська Академія як фактор формування національної самобутності української культури: парадокси еволюції, в: ПРОСФОНЕМА. Історичні та філологічні розвідки присвачені 60-річчю академіка Ярослава Ісаєвіча, Львів: Інститут Українознавства 1998, с. 453-464. die zur Verteidigung der Orthodoxie ins Leben gerufen wurde, stand, kann die Kiever Akadmie33S. M. Horak, The Kiev Academy: a Bridge to Europe in the 17th Century, in: „East European Quarterly“, 1968, vol. 2, nr. 2, p. 117-137. dennoch als eine „Brücke zu Europa im 17. Jhd“ gesehen werden.

Auch in den promienten Absolventen dieser Akademie lebt deren europäische Prägung weiter, wofür einmal mehr deren Mehrsprachigkeit gelten kann.34Vgl. Giovanna Brogi Bercoff, Stefana Jaworskiego poezja polskojęzyczna, in: Bertolisso S. et al. (Hg.): Contributi Italiani al XII Congresso Internazionale degli Slavisti, Napoli: Associazione Italiana degli Slavisti 1998, s. 347-371. Mohyla selbst ist dafür ein gutes Beispiel – er schrieb die meisten seiner Werke in polnischer Sprache.35Vgl. Łużny, Metropolita Piotr Mohyla, s. 341 ff. Lazar Baranovyč (1620-1690), auf dem Höhepunkt seiner Karriere Erzbischof von Černihiv, verfasste seine Predigten im Ukrainischen des 17. Jhds, seine geistliche und weltliche Lyrik aber auf Polnisch (z.B. Lutnia Apollinowa, Kijów 1671), was ihn aber nicht hinderte, ein treuer Untertan des russischen Zaren zu sein – nach 1676 waren die Gebiete östlich des Dnipro, einschließlich Kyjivs, ans Zarenreich gefallen. Ähnliches gilt für seine Zeitgenossen wie Ioannykij Galatovs´kyj, Antonij Radyvylovs´kyj und vor allem Stefan Javors´kyj, in dessen Werk sich auch emblematische Texte finden – ein letztes Mal taucht in seinen panegyrischen Texten auf den Hetman Ivan Mazepa der Wappenspruch in der Tradition der Renaissance auf.36Vgl. Woldan, Heraldische Dichtung im polnisch-ukrainischen Grenzraum, S. 144-148.

Stefan Javors´kyj (1658-1722), Absolvent der Kiever Akademie, der im Zarenreich Karriere machte – Peter I. machte ihn zum Erzbischof von Rjazan´ – hatte auf den Hetman Mazepa nicht nur panegyrische Texte geschrieben. Nach dessen Übertritt auf die Seite des schwedischen König Karl XII im Jahr 1708 und nach der Schlacht von Poltava 1709 war er einer der ersten, der in einem langen Gedicht, Стихи не измену Мазепы, изданные от лица всея России,37In: А. М. Панченко (Hg.), Русская силлабическая поэзия XVII-XVIII вв., Ленинград: Наука (=Библиотека поэта: Большая серия), с.134-136. Mazepa als „Verräter“ beschuldigte und verdammte.

Ivan Stepanovyč Mazepa (1639-1709), jener ukrainische Hetman, der, nachdem er lange Jahre treuer Gefolgsmann der russischen Zaren gewesen war, im Bündnis mit den Schweden versucht hatte die Ukraine aus der russischen Vormacht, in der sie seit den Verträgen von Perejaslav 1654 gekommen war, zu befreien, ist eine Person, die in vieler Hinsicht auch als Europäer und Mitteleuropäer gelten kann. Das betrifft zunächst seine Persönlichkeit. Mazepa war ein sehr gebildeter Mann, der nicht nur Sprachen wie Latein und Polnisch bestens beherrschte, sondern vielleicht auch im westlichen Ausland studiert hatte.38Eine neues, für die russische Sicht atypisches Licht auf Mazepa wirft die Biographie von Татяна Тайрова-Яковлева, Мазепа (Жизнь звмечательных людей), Москва: Молодая гвардия 2007. Während seiner Tätigkeit als Page am Hof des polnischen Königs Jan Kazimierz hatte er nicht nur höfische Etikette, sondern auch den Lebensstil des polnischen Hochadels kennengelernt – viele seiner späteren Kritiker warfen ihm eine zu große Nähe zu den „Ljachy“ und deren staatlichen Institutionen vor. Als gebildeter, man möchte sagen „aufgeklärter“39Valeryj Ševčuk betitelt sein Buch über Mazepa mit „prosvičenyj volodar“, „aufgeklärter Herrscher. Vgl. Валерий Шевчук, Просвічений володар. Іван Мазепa як будівничий Козацької держави і як літературний героі, Київ: Либідь 2006. Fürst förderte Mazepa die Kyjiver Akademie, die für kurze Zeit auch seinen Namen trug, er stiftete zahlreichen Kirchen (man spricht bisweilen vom „mazepinischen Barock“) und Kultgegenstände, er war Mäzen von Literaten und Künstlern. Ein solches Verständnis der Rolle des Fürsten, das auch an die Tätigkeit des bereits erwähnten Kostjantyn Ostroz´kyj erinnert, ist typisch für Mitteleuropa, wo Könige und Fürsten immer auch Gründer von Universitäten und Förderer des nationalen kulturellen Lebens waren.

Für Mazepas Selbstverständnis ist auch sein Bemühen um die Würde eines Fürsten des Heiligen Römischen Reichs sowie die Begründung, die der Hetman dafür in einem Brief an den Kaiser dieses Reichs, den Habsburger Josef I., anführt, charakteristisch: Mazepa und seine Kosaken hätten immer „die Ungläubigen Tartern und andere der Christenheit Feinde, von denen Christlichen Gräntzen zurück und kräfftiglich abgehalten…“ und wären auch in Zukunft bereit als eine „Vormauer der gantzen Christenheit uns willig bey allen Vorfallenheiten gebrauchen [zu] lassen.“40Теодор Мацьків, Гетьман Іван Мазепа в західноєвропейських джерелах 1687-1709, Мюнхен 1988, с. 241. Hier greift der Hetman auf das auch aus der polnischen Tradition bestens bekannte Argument des „antemurale christianitatis“ zurück, um damit die Zugehörigkeit seines Volkes zum christlichen, abendländischen Europa zu beweisen. Die Vorstellung von der Ukraine als „Vormauer der Christenheit“, als Bollwerk gegen heidnische Kräfte aus dem Süden, aber auch aus dem Osten, die sich in späteren Jahrhunderten immer wieder in Entwürfen der ukrainischen Identität findet, rechtfertigt auch die Würde eines Fürsten dieser Christenheit für den Anführer dieser Ukraine. Es ist nicht bekannt, wie der Wiener Hof auf dieses Ansuchen reagiert hat, dieser auf Deutsch verfasste Brief ist aber ein deutlicher Hinweis darauf, dass Mazepa seine und seines Landes Rolle in Europa sah und vielleicht auch aus diesem Grund seine zu engen Beziehungen zum Zarenreich lösen wollte.

Mazepa ist aber auch – wie kein anderer Ukrainer – in Europa aufgrund seiner literarischen Karriere im 19. Jhd. präsent,41Für Volodymyr Matvijišyn ist Mazepa ein wesentlicher Teil des europäischen Erbes der ukrainischen Literatur, Vgl. Володимир Матвіїшин, Український літературний європеїзм. Монографія, Київ: Академія 2009, с. 186-198. die allerdings von einer nicht belegten Episode aus seiner Zeit am polnischen Hof geprägt ist, welche zum ersten Mal von Voltaire in seiner „Geschichte Karls XII“ (Histoire de Charles XII, Roi de Suède, 1731) überliefert wird: Mazepa hätte die Frau eines hohen polnischen Würdenträgers verführt und sei von diesem zur Strafe nackt auf ein Pferd gebunden worden, welches ihn in die Ukraine getragen habe.

In G. Byrons Mazeppa (1819), einem seiner Oriental Poems, steht der unfreiwillige Ritt des Protagonisten im Zentrum der Erzählung, er dauert drei Tage und drei Nächte, und kulminiert in der Überquerung des Flusses Dnipro („Borysthenes“), dessen Wasser den zu Tode erschöpften Mazepa zu neuem Leben und neuen Taten auf Seiten der ukrainischen Kosaken erwecken. Vitor Hugo, der sich an dieses Modell der Byron´schen Erzählung hält, hat zehn Jahre später im zweiten Teil seines Poems Mazeppa den Ritt an den Himmel verlegt, Mazepa wird aus dem historischen Kontext gelöst und zum Symbol für den romantischen Künstler, den auf Gedeih und Verderb seinem Genie ausgesetzt ist. Zuvor schon hatte die französische romantische Malerei (H. Vernet, L. Boulanger, Th. Gericault, E. Delacroix) eine solche Deutung des Byron´schen Mazeppa eingeleitet.42Vgl. Hubert Babinski, The Mazeppa Legend in European Romanticism, New York: Columbus University Press 1974, p. 47-74. Im selben Jahr, in dem Hugos Poem erschien, 1829, polemisierte A. S. Puškin in seinem Poem Poltava, das ursprünglich Mazepa heißen sollte, gegen eine solche westeuropäische, „romantische“ Sicht des ukrainischen Hetmans und wollte den wahren Mazepa zeigen, eine alten und bösen Intriganten, der sowohl seine junge Geliebte Marija, deren Vater Kočubej er hinrichten ließ, wie auch seinen Herrn, dem er Treue geschworen hatte, den ebenso jungen Zaren Peter, betrogen hatte. Die gerechte Strafe ereilt den Bösewicht in der Niederlage bei Poltava, die er zusammen mit dem überheblichen Schwedenkönig erleiden muss. Puškin zementiert mit seinem literarischen Werk den Vorwurf des Verrats, den Javors´kyj mehr als hundert Jahre zuvor schon formuliert hatte, und der in der Folge von der russischen Historiographie kritiklos übernommen wurde (neuere Arbeiten ukrainischer, aber auch russischer Autoren sprechen Mazepa von diesem Vorwurf frei43Vgl. Alois Woldan, A New Hero for Ukraine. Mazepa in Recent Ukrainian Publications, in: Ukraine twenty years after independence. Assessments, perspectives, challenges. Ed. by Giovanna Brogi, Marta Dyczok, Oxana Pachlovska, Giovanna Siedina, Roma: Aracne 2015, p. 227-240.).

So groß Puškins Autorität im deutschsprachigen Raum war, bei seiner Interpretation Mazepas als Verräter ist man ihm jedoch nicht gefolgt. Das zeigen zahlreiche deutschsprachige Mazepa-Texte, die zwar die Story aus Puškins Poltava übernehmen, nicht aber dessen Beurteilung des Protagonisten.44Vgl. Alois Woldan, Ivan Mazepa in der deutschsprachigen Literatur, in: „Wiener Slavistisches Jahrbuch Bd. 56, 2010, S. 141-160. Dabei spielten die Erfahrungen des Völkerfrühlings von 1848 sicher eine Rolle – in den Bearbeitungen, die nach 1848 entstanden sind, zeigen sich die Autoren sensibilisiert für die nationalen Ambitionen der Ukrainer. So formuliert Mazepa in Andreas Mays Der König der Steppe (1849) das Programm einer nationalen Unabhängigkeit der Ukraine, das der historische Mazepa mit Hilfe des Schwedenkönigs verwirklichen wollte: „Längst murrt das Volk und trug nur im Gefühl / Vergeb´nen Widerstandes Rußlands Joch / Die Zeit soll aus sein, Bruder Kotschubej. / Ein freier Staat soll die Ukraine werden, / Ein freies Reich soll hier entsteh´n, selbständig / Und unabhängig. / Wie ein Riese soll es / Sich zwischen Osten und dem Westen lagern, / Ein Bollwerk gegen Rußland für Europa“.45Andreas May, Der König der Steppe, München: Deschler 1849, S. 11f. Das Bollwerk, gut bekannt aus der Argumentation des „Antmurale Christianitatis“ aus Mazepas Brief von 1707, wird nun was seine Richtung betrifft, eindeutig umfunktioniert: es soll den Westen nicht mehr vor Tartaren und Türken, sondern vor Russland schützen. Der Vorwurf des Verrats wird abgeschwächt: der Zar selbst hat seinen Verpflichtungen in Bezug auf die Ukraine nicht eingehalten – das befreit auch seinen Vasallen von der Pflicht zur Treue.

Fast zwanzig Jahre nach Mays König der Steppe veröffentlichte Rudolf v. Gottschall (1823-1909), ein erfolgreicher Bühnenautor des 19. Jhd.s, der heute ebenso vergessen ist wie der erwähnte Andreas May, sein Stück Mazeppa. Geschichtliches Trauerspiel in fünf Aufzügen (1865), das schon vor der Veröffentlichung häufig auf deutschen Bühnen gespielt wurde. Einmal mehr stützt sich Gottschall auf jene Handlung, die aus Puškins Poltava bekannt ist, reichert sie jedoch mit Details aus der Byron´schen Mazepa-Erzählung an. So wie bei May ist auch Gottschalls Mazepa ein Führer, der sein Volk in die Unabhängigkeit, sei es von Russland, sei es von Polen, führen will: „Wenn´s nicht um dieser Völker Freiheit wäre / die stets für fremde Herr´n ihr Blut verspritzen, / Für Warschau bald und bald für Moskau stöhnen! Die grüne Steppe, unser freies Reich,/ Kennt keinen Herrn als uns –  und sollten wir / Nicht uns´rer großen Heimat würdig sein? Ein freies Reich, bis fern nach Asiens Zone / Und für den Würdigsten die Herrscherkrone!“46Mazeppa. Geschichtliches Trauerspiel von Rudolf Gottschall, Leipzig: Brockhaus 1865, S. 52. Zur hier formulierten Unabhängigkeit der Ukraine kommen aber die persönlichen Ambitionen Mazepas, der bei Gottschall, so wie auch bei Puškin, von einer Königskrone träumt. Im Unterschied zu Puškins Deutung ist Gottschalls Held dazu durchaus fähig, weil er die nötige Willenskraft besitzt. Das Bild des ans Roß gefesselten Mazepa deutet eine Wahrsagerin der Tochter Mazepas gegenüber wie folgt: „…sie das große Bild – den Jüngling / Ans Roß gebunden! Dies ist dein Vater – / Und nicht dein Vater bloß, es ist der Mensch, / Den ein unbändig Wollen mit sich fortreißt!“47Ibidem, S. 135. Diese Deutung, die zunächst an die der französischen Romantik erinnert – Mazepa als ein Symbol des Menschen, der an sein Genie gebunden ist – wurde von ukrainischen Interpreten des Gottschall´schen Stücks politisch gedeutet: Mazepa verkörpert jenen Willen zur Macht, der allein es ermöglicht, die Ukraine in die Unabhängigkeit zu führen. Er ist ein Beispiel für eine ideale Führerfigur für die Ukraine.48Vgl. Dmytro Donzow, Mazeppa in der Weltliteratur, in: „Der Stürmer 20 (13)“, 1918, S. 23-27, bzw. Дмитро Донцов, Гетман Мазепа в європейскіі літературі, в: „Шляхи IV“, 1917, с. 283-291.

Das Vermächtnis Mazepas wirkt nach, auch wenn von russischer Seite versucht wurde, jede Erinnerung an den Hetman zu unterdrücken. 1909, anlässlich der 200-hundersten Wiederkehr der Schlacht von Poltava, formuliert Jevhen Levyc´kyj, ruthenischer Abgeordneter zum Österreichischen Reichsrat aus Galizien, in der Wiener Zeitschrift

Ukrainische Rundschau, dieses Erbe Mazepas wie folgt: „Für die Russen bedeutet der Ausgang der Schlacht bei Poltawa einen Sieg ihrer Waffen, für die Ruthenen bildet der Aufstand Mazepas den historischen Beweis, dass das ruthenische Volk den Gedanken an seine Unabhängigkeit nie ganz preisgab.“49Dr. Eugen Lewickyj, Die staatliche Unabhängigkeit der Ukraine und Iwan Mazepa, in: „Ukrainische Rundschau VII, 1909“, Juli, S. 290-299, hier: 290. Und wenige Jahre später, mit Beginn des Ersten Weltkriegs, scheint für Dmytro Doncov eine Situation gekommen, in der die Chance auf Erlangung dieser Unabhängigkeit nahe ist – einmal mehr wird dabei auf die Schlacht bei Poltava verwiesen:

Es scheint aber, dass wir jetzt in der Zeit der Revision des großen historischen Prozesses leben, den die blinde Justizia vor 200 Jahren zugunsten Russlands entschieden hat. Die von Peter begonnene russische Lösung des großen osteuropäischen Problems fängt an zu wanken. Der ganze Komplex von Ländern […], den einst die Soldaten Karls XII. durchzogen, wird allmählich wieder zu einem Kriegsschauplatz, wo man ebenso wie damals um die Zukunft Europas und Rußlands kämpft.50Dmytro Donzow, Karl XII. Feldzug nach der Ukraine. Sonderdruck aus der Ukrainischen Rundschau, Wien: Gerold 1916, S. 30.

Eine „andere“, weil im Vergleich zum Zarenreich deutlich mitteleuropäisch geprägte Geschichte der Ukraine entwickelte sich im österreichischen Galizien, das mit der Ersten Teilung Polens 1772 auch beträchtliche Teil der Westukraine, das ehemalige Fürstentum Halyč, bekam. Zwar wurde dieser größere ukrainischen Teil des neuen Kronlands „Galizien und Lodomerien“ mit dem kleineren Gebiet Kleinpolens in einer administrativen Einheit vereinigt, was der Kern für spätere Konflikte zwischen Polen und Ukrainern in Galizien in sich trug, aber die Regierung in Wien betrieb eine gegenüber den Ruthenen (so die Ukrainer im österreichischen Sprachgebrauch) Politik der Unterstützung und der Förderung.

Das zeigte sich zunächst auf dem Gebiet des kirchlichen Lebens51Von den zahlreichen Publikationen zur Situation der griechisch-katholischen Kirche in Galizien vgl. John-Paul Himka, The Greek Catholic Church in Nineteenth-Century Galicia, in: Geoffrey Hoskin (Ed.), Church, Nation and State in Russia and Ukraine, London 1991, p. 52-64; Alexander Ostheim-Dzerowycz, Österreich und die Ukraine: Ein Beitrag zur Kulturpolitik, in: Viribus Unitis. Österreichs Wissenschaft und Kultur im Ausland. Impulse und Wechselbeziehungen. Festschrift für Bernhard Stillfried aus Anlass seines 70. Geburtstags, Bern: Peter Lang, 1996, S. 313-320; Степан Заброварний, Священники – перші просвітителі українського народу в Галичині на зламі XVIII i XIX століть, в: Варшавські Українознавчі Записки, зошит 1, Варшава 1989, с. 134-147. gegenüber den unierten Christen (die Ruthenen wurden zunächst als eine religiös andere Gruppe wahrgenommen), die seit Maria Theresias Zeiten als Griechisch-katholische Christen bezeichnet werden, was die Gleichwertigkeit der Unierten zu den römischen Katholiken unterstreicht. Schon 1774 wird in Wien ein Priesterseminar für unierte Kleriker gegründet, das wenig später nach Lemberg übersiedelt wird und dort als Griechisch-Katholisches Generalseminar bis 1944 existierte. Die Pfarre St. Barbara aus eben dieser Zeit verblieb in Wien, sie ist bis heute ein Zentrum ukrainischen Lebens in Österreich. Die Reformen Josephs II. versuchten den Stand der Geistlichen zu heben, zum einen durch eine bessere Ausbildung, zum anderen durch eine staatliche Besoldung, die den Griech.-kath. Pfarrer von den Einkünften aus seiner Gemeinde unabhängig machen sollten. Um den Griech.-kath. Theologiestudenten das Studium an der wiederbegründeten Lemberger Josephinischen Universität mit Latein und Deutsch als Unterrichtssprachen zu erleichtern, wurde ein „Studium Ruthenum“52Vgl. Амврозій Андрохович, Львівське „Studium Ruthenum“, в: Записки Наукового Товариства ім. Шевченкa т. CXXXII, Львів: Накладом Товариства 1922, с. 185-217. eingerichtet, das den jungen ukrainischen Galiziern den Übergang zu einem Universitätsstudium in einer Fremdsprache erleichtern sollte. Die Nähe der Griechisch-katholischen Kirche, vor allem der Hierarchie, zu Wien, sowie eine generelle Nähe zur Römisch-katholischen Kirche in Galizien (die bisweilen aber auch die Gefahr des Verlusts der byzantinischen Geistigkeit barg), ist in jedem Fall als ein Faktor der Integration der ukrainischen Kultur nach Europa zu sehen.

Ähnliches gilt für Sprache und Literatur. Aus der Sicht von in Wien tätigen Gelehrten, wie Jernej Kopitar und Franz Miklosich ist das Ruthenische eine eigenen Literatursprache, vom Polnischen wie vom Russischen deutlich unterschieden (wenn Kopitar für das lateinische Alphabet für die ukrainischen Schriftsprache plädierte, zeigt sich die Kehrseite dieser mitteleuropäischen Unterstützung), und auch der Slowake Jan Kollár betont in seiner „Wechselseitigkeit der Slawen“ das „Kleinrussische“ als eigenen Dialekt des Russischen.53Vgl. Johann Kollár, Über die literarische Wechselseitigkeit der Slawen, Pesth: Trattner-Károlyische Schriften 1837, S. 11. Die erste volkssprachliche Publikation der Ruthenen in Galizien, der berühmte Almanach Rusalka Dnistrova, der von drei Studenten des Griechisch-Katholischen Generalseminars zusammengestellt und in Budapest gedruckt wurde, enthält nicht nur Zitate von J. Kollár und V. St. Karadžić, er beinhaltet in einem Teil, der mit „Übersetzungen“ betitelt ist, auch Übersetzungen benachbarter slawischer Völker wie der Tschechen und der Serben.54Vgl. Переводи, в: Русалка Днїстрова. Вдруге видана з нагоди столїтних уродин Маркіяна Шашкевича. Тернопіль: Товариство «Інститут жіночий ім. Княгинї Ярославни» 1910, с. 75-81. Der Geist der slawischen Wechselseitigkeit und des Panslawismus österreichischer Prägung ist unverkennbar und zeigt, wie auch diese bedeutende Publikation an mitteleuropäischen Ideen partizipiert.

Am deutlichsten zeigt sich die mitteleuropäische Eingebundenheit Galiziens im Jahr 1848, als auch die ruthenische Bevölkerung am revolutionären Geschehen des Völkerfrühlings Anteil nimmt.55Vgl. dazu Іван Крипʼякевич, Історія України, Львів: Світ 1990, с. 283-285; Jan Kozik, Stosunki ukraińsko-polskie w Galicji w okresie rewolucji 1848-1849. Próba charakterystyki, w: „Zeszyty naukowe Uniwersytetu Jagiellońskiego CCCCXVI“. Prace historyczne z. 54, 1975, s. 29-53; Stefan Baran, Die Erste Ukrainische politische Organisation, in: „Ukraine in Vergangenheit und Gegenwart“ 1954, Heft 1-2, S. 80-84. Ermuntert vom österreichischen Gouverneur Franz v. Stadion gründete man einen „Ruthenischen Hauptrat“ („Holovna Ruska Rada“), der um den Metropoliten Hryhorij Jachymovyč tagte und bald darauf  – nach polnischem Vorbild – eine Petition der ruthenischen Bevölkerung Galiziens nach Wien schickte, welche eine sprachlich-kulturelle Autonomie forderte. Auf dem Slawenkongress in Prag im Juni 1848 wurde bereits die Forderung einer Teilung Galiziens in ein polnisches West- und ein ruthenisches Ostgalizien vertreten, es kam jedoch durch tschechische Vermittlung zu einem Kompromiss, man sah von dieser Forderung vorläufig ab.56Vgl. Wolfdieter Bihl, Die Ruthenen, in: Die Habsburgermonarchie 1848-1918. Bd. III, 1. Teilband. Wien: Verlag d. Österr. Akademie d. Wissenschaften 1980, S. 555-584, hier: 557. Der Völkerfrühling wurde bekanntlich von der österreichischen Regierung mit Hilfe des russischen Verbündeten niedergeschlagen, die Hoffnungen blieben unerfüllt. Nach einer gut 10-jährigen Phase der Reaktion begann aber mit den 1860er Jahren eine neue, konstitutionelle Ära, es gab eine Verfassung, die bürgerliche Grundrechte und die Partizipation der Ruthenen in den parlamentarischen Vertretungen des galizischen Sejms sowie des Wiener Reichsrats ermöglichte. In diesen Institutionen konnten die Ruthenen einige Jahrzehnte lang demokratische Erfahrungen sammeln, die bei den Staatsgründungen nach 1917 von großer Bedeutung werden sollten.

Nicht nur das österreichische Parlament war eine Institution, die die galizischen Ruthenen mit der europäischen politischen Kultur in Kontakt brachte, es waren auch die österreichischen Hochschulen, vor allem die Wiener Universität, welche die Ruthenen mit der europäischen Wissenschaft vertraut machte. Schon ab den 1860er Jahren kamen viele ukrainische Studierende nach Wien, auch aus dem Grund, weil die „einheimische“ Universität Lemberg nicht wie geplant utraquistisch war, sondern vom Polnischen als Vortragssprache dominiert wurde. Es ging aber nicht nur um die Vortragssprache, welche die ruthenischen Studenten ja schon aufgrund ihrer Ausbildung im galizischen Gymnasium gut kannten – die österreichische Franzens-Universität verstand sich mehr und mehr als eine polnische Universität, an der um 1880 nur zwei der Professuren von Ruthenen bekleidet wurden, und auch als ein Bollwerk polnischer Kultur im Kampf mit einer ukrainischen Umgebung, wie Franciszek Jaworski anläßlich des 200-jährigen Jubiläums der Universität feststellte: [Alma Mater lwowska] „Jest potężną twierdzą ducha polskiego, czujną strażnicą u wschodnich rubieży Polski, jest jasnem ogniskiem wiedzy, prawdy i kultury…“57Franciszek Jaworski, Uniwersytet Lwowski, Wspomnienie Jubileuszowe. Lwów 1912, s. 9

Die ruthenischen Studenten wichen also gern nach Wien aus, die deutsche Unterrichtssprache war ihnen aus dem Gymnasium ebenso bekannt wie die polnische, und es gab im multinationalen Milieu der Wiener Studenten keine Antagonismen zwischen unterschiedlichen nationalen Gruppen. Am häufigsten studierten die jungen Ukrainer, zumeist Söhne von Griechisch-katholischen Geistlichen, Jura, weil dafür die geringsten Gebühren zu bezahlen waren. Fast ebenso beliebt waren die philologischen Studien, von der Klassischen Philologie bis zur Slawistik, deren Absolventen dann an galizischen Gymnasien als Lehrer wirkten. Seltener waren Medizin und Naturwissenschaften, die aber auch prominente Absolventen hervorbrachten, wie den Physiker Ivan Puluj, der auch an der der ersten vollständigen Bibelübersetzung ins Ukrainische mitwirkte, und den Mediziner Ivan Horbačevs´kyj, der auch der erste österreichisch-ungarischer Gesundheitsminister war.58Vgl. Taїsija Sydorčuk, Die Ukrainer in Wien, in: Ukraine. Geographie-Ethnische Struktur-Geschichte-Sprache und Literatur-Kultur-Politik-Bildung-Wirtschaft-Recht. Hg. von P. Jordan, A. Kappeler; W. Lukan u. J. Vogl, Österr. Osthefte, Sonderband 15. Wien et al.: Peter Lang 2001, S. 457-482, hier 464.

Prominentester ukrainischer Philologe, der an der Universität Wien seine Dissertation verfasst hatte, ist Ivan Franko; er hatte seine Studien an der Universität Lemberg begonnen, es aber vorgezogen in Wien zu dissertieren, weil er an der Lemberger Universität aufgrund seiner politischen Einstellung immer wieder auf Schwierigkeiten stieß (die Nichtzuerkennung des Dozenten-Status nach erfolgreicher Habilitation stellt den Höhepunkt dieser Schikanen dar). Frankos Beispiel zeigt aber auch, dass ein „halbfreiwilliger“ Abgang von Lemberg in die Hauptstadt des Imperiums auch positive Folgen nicht nur für das Studium hatte: in Wien verfasste Franko nicht nur seine Dissertation, die er mit bestem Erfolg verteidigte, er knüpfte auch Kontakte zu verschiedenen deutschsprachigen Zeitungen (Die Zeit, Arbeiter-Zeitung u.a.), für die er regelmäßig Beiträge verfasste, die auch seine finanzielle Situation verbesserten.

Es war nicht nur die Universität Wien, die ukrainische Studenten aus Galizien anzog. Neben der Universität waren es vor allem die Technische Hochschule, an der so gut wie alle Professoren, Polen und Ukrainer, der später Polytechnischen Hochschule Lemberg studiert hatten;59Vgl. Jacek Purchla, Wpływy wiedeńskie na architeturę Lwowa 1772-1918, in: Architektura Lwowa XIX wieku /  Архітектура Львова XIX століття. Kraków: Międzynarodowy Centrum Kultury 1997, s. 30-53. dazu kam die Akademie der Bildenden Künste, an der ukrainische Künstler wie Fedir Jachymovyč, Kornylo Ustyjanovyč, Teofil Kopystens´kyj u.a. studierten,60Vgl. Наталія Асеева, До історії українсько-австрійських мистецьких контактів у XIX – на початку XX ст., в: Третій міжнародний конгресс україністів. Філософія-Історія культури-освіта. Доповіді та повідомлення. Харьків 1996, с. 273-277. sowie das Wiener Konservatorium, an der viele der späteren Professoren des Lemberger Konservatoriums, Polen, Ukrainer und Juden, ausgebildet wurden.61Vgl. Michał Piekarski, Muzyka we Lwowie. Od Mozarta do Majerskiego. Kompozytorzy, muzycy, instytucje, Warszawa: Fundacja Dziedzictwo Kresowe 2017.

Galizien ging bekanntlich mit dem Ersten Weltkrieg unter, eine ganze Reihe von Faktoren, die für die mitteleuropäische Integration auch des vorwiegend ukrainischen Ostgaliziens von Bedeutung waren, fielen weg. In den ersten Kriegsjahren aber sah die Lage noch ganz anders aus. Bei Kriegsbeginn herrschte auch bei den galizischen Ukrainern eine große Begeisterung und Siegesgewissheit; mit einem Sieg der Mittelmächte verband man die Hoffnung auf eine Unabhängigkeit der Ukraine, zumindest als eigenes Kronland im Verband einer neu gestärkten Habsburgermonarchie. Verschiedene ukrainische Organisationen entstanden, die die Anliegen der Ukrainer propagandistisch unterstützen und die westeuropäische Öffentlichkeit von diesen Anliegen in Kenntnis setzen wollten. Die wichtigste dieser Organisationen war der 1914 in Lemberg gegründete „Bund zur Befreiung der Ukraine“ („Sojuz Vyzvolennja Ukrajiny“),62Іван Патер, Союз Визволення України та українське питання в политиці центральних держав 1914-1918 рр., в: Україна: культурна спадщина, національна свідомість, державність. Збірник наукових праць 3-4, Львів: Інститут Українознавство ім. І. Крипякевича 1997, с. 140-162. der schon in seinem Namen ein großes Programm trägt, die Befreiung der Ukaine. Noch im ersten Kriegsjahr übersiedelte diese Organisation von Lemberg nach Wien und entfaltete eine rege publizistische Tätigkeit: sie gab Zeitungen und zahlreiche Publikationen in deutscher, aber auch ukrainischer Sprache heraus, die das Bewusstsein der Öffentlichkeit für die Anliegen der Ukrainer in Galizien, aber auch im Zarenreich sensibilisieren sollten.

Das wichtigste Anliegen diese Bundes war aber die Unterstützung der Sitsch-Schützen, eigener ukrainischer militärischer Einheiten, die im Rahmen der österreichischen Armee aufgestellt werden durften (neben den Ukrainern verfügten nur die Polen in Galizien bzw. im Wilhelminischen Kaiserreich über eigene militärische Einheiten, die Polnischen Legionen). Diese Schützen-Einheiten, aus Freiwilligen gebildet, sollten eine Art Unterpfand für die ukrainischen Ansprüche sein – mit dem eigenen heroischen Einsatz wollten die Schützen ihren Beitrag zum Kampf gegen den verhassten russischen Feind leisten, um dafür dann nach dem Sieg über diesen entsprechende Forderungen stellen zu können. Die Sitsch-Schützen sind zu einem Topos in Geschichte, Literatur und Kunst geworden, sie haben heute ihren festen Platz im historischen Gedächtnis der Ukraine,63Ein Beispiel für die zahlreichen Arbeiten über die Sitsch-Schützen aus jüngster Zeit ist die Fotodokumentation in sechs Heften, Українські Січові Стрільці. Збірка фотогрaфій до історії Українських Січових Стрільців. Упорядники Я. Онищук, О. Панькевич, Львів: Галицька Видавнича спілка, 2003. Eine umfangreiche Sammlung von Texten der Schützen hatte zuvor schon Taras Salyha herausgegeben: Стрілецька Ґолґофа. Спроба антології. Упорядник: Тарас Салига, Львів: Каменяр 1992. und sie sind ein Beispiel für eine militärische Allianz mit einem westlichen Partner.

Mit den Sitsch-Schützen verbunden ist auch eine Person, die in exemplarischer Weise österreichisch-ukrainische Beziehungen verkörpert, Erzherzog Wilhelm v. Habsburg (1895-1948), oder auch Vasyl´ Vyšyvanyj, wie in die Ukrainer liebevoll nennen.64Vgl. Ю.І. Терещенко, Т. Осташко, Український патріот з династії Габсбургів, Київ: Темпора 2008. Im Unterschied zu seinem Vater, dem Erzherzog Karl Stefan aus der Teschener Linie der Habsburger, der nach dem Willen der Mittelmächte König eines wiedererstandenen Polens werden sollte, begeisterte sich der Sohn für die Sache der Ukrainer. Er stieg rasch vom Offizier im Ersten Weltkrieg zu einem wichtigen Kommandeur der Sitsch-Schützen auf und wurde bald als Fürst der Ukraine gehandelt, die im Rahmen des Habsburgischen Imperiums entstehen sollte. Er war nicht nur Truppenkommandant und Politiker, er schrieb auch Gedichte in ukrainischer Sprache, die ganz der Thematik der Sitsch-Schützen verbunden sind. 1945 wurde Wilhelm, der sich in der Zwischenkriegszeit völlig aus dem politischen Leben zurückgezogen hatte, in Wien vom sowjetischen Geheimdienst gekidnappt und nach Kiew gebracht, wo er im Untersuchungsgefängnis starb – teuer musste er für das ukrainischen Engagement seiner Jugend bezahlten. Er wurde ein Opfer einer Ideologie, die ihren Gegnern nie verziehen hatte und sich an diesen auch Jahre später noch rächte. Die Ukraine pflegt sein Andenken, in Kyjiv wurde ein Denkmal für ihn errichtet und in Charkiv wurde im Herbst 2021 eine Oper über ihn uraufgeführt, deren Libretto vom bekannten Dichter Serhyj Žadan stammt.65Сергій Жадан, Вишиваний. Король України. Лібрето опери, Чернівци: Мерідіан Черновіц 2020.

Eine unfreiwillige Seite der Integration ukrainischer Menschen nach Österreich und auch Deutschland stellte die Aussiedelung von Tausenden von Menschen dar, die während des Ersten Weltkriegs aus dem Gebiet der Front in Ostgalizien evakuiert und in Lager nach Österreich und Deutschland gebracht wurden. Von den österreichischen Lagern für Ukrainer sind vor allem drei zu nennen, Gmünd in Niederösterreich für Zivilbevölkerung, Freistadt in Oberösterreich für gefangene Soldaten, und Thalerhof bei Graz in der Steiermark, ein Lager für politische Gefangene.

Schon 1915 wurde in Gmünd im nördlichen Niederösterreich nahe an der heutigen österreichisch-tschechischen Grenze ein Barackenlager errichtet, das für Flüchtlinge aus Ostgalizien, aber auch Personen, die aus dem Bereich des Frontverlaufs evakuiert worden waren, errichtet wurde. Das Lager, das vor allem von Frauen, Kindern und alten Leuten belegt war, war für 30.000 Personen gedacht, musste aber in Spitzenzeiten bis zu 100.000 Personen aufnehmen. Das hatte zur Folge, dass die Lebensbedingungen dort sehr schlecht waren, eine große Zahl der Insassen starb an Krankheiten und Seuchen. Trotzdem gab es in diesem Lager ein reges kulturelles Leben, es gab eine Schule, Chöre, ein Theater, ein Kino und andere Veranstaltungen. Abgesehen von den Berichten der Historiker66Vgl. M. Dacho, F. Drach, H. Winkler, Am Anfang war das Lager. Gmünd-Neustadt, Weitra: Bibliothek d. Provinz, 2014. wissen wir über dieses Lager auch aus literarischen Quellen –  Katrja Hrynevyčeva (1875-1947), eine westukrainische Autorin, die im Lager als Lehrerin tätig war, hat einen Band mit eindrucksvollen Skizzen hinterlassen, die das Elend, aber auch den Überlebenswillen der Lagerinsassen in eindrucksvoller Weise schildern.67Vgl. Катря Гриневичева, Непоборні. Повість, оповідання, новели, Львів: Каменяр 2004.

Im Lager Freistadt in Oberösterreich, ebenso nahe der heutigen tschechischen Grenze wie Gmünd, waren nur Männer untergebracht, mehrere Zehntausend ukrainischer Kriegsgefangener, Soldaten der zaristischen Armee, die in österreichische Gefangenschaft geraten waren.68Vgl. Fritz Fellner, Das Gefangenenlager der Ukrainer in Freistadt 1914-1918, in: idem, Freistadt. 800 Jahre Leben an der Grenze. Ein Stadtgeschichtsbuch, Freistadt: Plöchl 2013, S. 294-305. Sie wurden in kultureller Hinsicht vom „Bund der Befreiung der Ukraine“ in Wien betreut, man wollte das ukrainische Bewusstsein dieser „Kleinrussen“ heben. Dazu dienten auch die kulturellen Aktivitäten im Lager – Literatur, Theater, Chor und Presse. Im Lager Freistadt war auch ein ostukrainischer Autor interniert, Oleksij Kobec´ (eig. Oleksa Varrava, 1889-1967), der dort mehrere kleine Bücher schrieb. Besonders beeindruckend ist ein Poem, das mit seinem Titel, Z Velykych Dnjiv,69O. Кобець, З Великих Днїв, Відень: Накладом Союзa Визволення України, 1917. auf die erwähnten propagandistischen Publikationen von Kriegsbeginn zurückgreift, um diese zu entlarven. Von den „Großen Tagen“ ist nur Elend und Zerstörung geblieben, Menschen, die vertrieben sind und in Lagern hinter Zäunen sitzen. Die Zeichnungen, mit denen diese Publikation illustriert ist, unterstreichen nur noch deren Botschaft.

Das Lager Thalerhof bei Graz, auf dessen Gebiet in den 1960er Jahren der Flughafen Graz-Thalerhof errichtet wurde, ist im ukrainischen historischen Bewusstsein am Schlechtesten konnotiert – als Ort des Martyriums Tausender Unschuldiger.70Vgl. den Titel der umfangreichsten Dokumentation dazu: Талергофский альманах. Пропамятная книга австрийских жестокостей, зверств и насилий над карпато-русским народом во время всемирной войны 1914-1917 гг., 4 т., Лвов 1924-1932. Tatsächlich hatten die österreichischen Militärs zu Kriegsbeginn Tausende Ruthenen in Ostgalizien unter dem Vorwand, russischen Spione zu sein, verhaftet, viele von ihnen wurden sofort exekutiert, der Großteil der Überlebenden landete im Lager Thalerhof, das zunächst für die Aufnahme von Flüchtlingen nicht vorbereitet war, sodass viele von den Eingelieferten nicht überlebten.71Vgl. dazu von österreichischer Seite: Hoffmann, N-M. Goll, Ph. Lesiak, Thalerhof 1914-1936. Die Geschichte eines vergessenen Lagers und seiner Opfer, Herne: Gabriele Schäfer 2010. Aber auch später war die Behandlung der Gefangenen in diesem Lager vielfach unmenschlich, sodass Thalerhof zu den dunkelsten Seiten in der Geschichte der österreichisch -ukrainischen Beziehungen gehört.

Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs beginnt eine neue Phase des ukrainischen Lebens in Wien. Schon während des Ersten Weltkriegs war die Zahl der galizischen Ruthenen in der Reichshauptstadt sprunghaft angestiegen, Flüchtlinge hatten Ostgalizien vor den herannahenden russischen Truppen verlassen, Zivilbevölkerung wurde in großem Ausmaß aus den umkämpften Gebieten evakuiert. Nach Kriegsende setzte eine neue ukrainische Emigration nach Wien ein, die, im Unterschied zur Migrationsbewegung der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, aber einseitig war: man kam nach Wien, zum hier zu bleiben bzw. von hier aus weiter zu wandern; nur in seltenen Fällen gab es nach einem Exil auf Zeit auch eine Rückkehr in die Heimat. Das hängt vor allem mit den politischen Umständen zusammen – in Kyjiv hatten die bolschewistischen Kräfte die Herrschaft in der Ukrainischen Volksrepublik an sich gerissen, und in der Westukraine wurde die Westukrainische Volksrepublik von polnischen Truppen immer mehr verdrängt, bis dass deren Armee kapitulierte und die Regierung ins Exil ging – nach Wien.

Wien wurde für einige wenige Jahre zum Zentrum einer ukrainischen politischen, kulturellen und auch wissenschaftlichen (die Freie Ukrainische Universität wurde 1921 in Wien begründet, übersiedelte allerdings noch im selben Jahr nach Prag) Emigration, die auch eine rege publizistische Tätigkeit entwickelte.72Vgl. Олесь Герасим, Українська видавнича справа у Відні, в: Третій міжнародний конгресс україністів. Політологія-Етнологія-Соціологія. Доповіді та повідомлення, Харьків 1996, с. 363-370. Es änderte sich im Vergleich zu den Kriegsjahren die Sprache der Publikationen – nun dominierte das Ukrainische, die Zeitschriften und Bücher war vornehmlich für einen ukrainischen Leser, für die verschiedenen Gruppen der Emigranten, bestimmt. Noch nie zuvor hatte es eine so große Zahl an ukrainischen Periodika (wenngleich die meisten von ihnen nur für wenige Jahre erschienen), eine solche Zahl von ukrainischen Verlagen, die in Wien ihren Sitz hatten und hier auch druckten, und eine derart stattliche Anzahl von Publikationen gegeben, wie in den Jahren 1919 – 1924. Die Breite des ideologischen Spektrums dieser Veröffentlichungen entsprach der Vielzahl ideologischer Gruppierungen, die sich in der Wiener Emigration auf engem Raum eingefunden hatten – von Kommunisten und Sozialisten am linken Rand über Vertreter der beiden Republiken in der Mitte bis hin zu Anhängern des Hetmans Skoropads´kyj und Monarchisten am rechten Flügel.

Einige wenige Zeitschriftentitel seinen als Beispiel genannt. Pracja, das Organ der ukrainischen Sozialdemokratie, das nach 1921 dem radikaleren Organ der Kommunistischen Partei Ostgaliziens, Naša Pravda Platz machen musste. Zu den auflagenstärksten Zeitschriften gehörte die Wochenschrift Volja, die von Vertretern der Kiewer Republik und des Petljura-Lagers herausgegeben wurde. Für das Hetman-Lager und eine monarchistisch verfasste Ukraine stehen die Bände der Chliborobs´ka Ukrajina, die zwischen 1920 und 1925 erschienen und auf die Initiative des prominenten Publizisten und Wissenschaftlers Vjačeslav Lypyns´kyj zurückzuführen sind. Die Zeitschrift Na Perelomi, die keiner eindeutigen politischen Orientierung zugeordnet werden kann, wurde vom Dichter Oleksandr Oles´ herausgegeben und wollte einer Emigration, die „ohne Steuer und ohne Segel“ war, Hoffnung geben und den Glauben an das ukrainische Volk festigen.

Unter den prominenten Emigranten, die in jener Zeit Wien als Zufluchtsort wählten, finden sich Dichter wie Petro Karmans´kyj, Vasyl´ Pačovs´kyj und Bohdan Lepkyj, Philologen, die auch literarische Werke verfassten, wie Oleksandr Kolessa und Vasyl´ Ščurat, Übersetzer wie Ostap Hrycaj und Verleger wie Jurij Tyščenko, der in Wien den Verlag „Dzvin“ betrieb. Dazu kamen Persönlichkeiten aus dem politischen Leben, wie Dmytro Doncov, der bereits erwähnte Vjaceslav Lypyns´kyj, der erste Botschafter eines ukrainischen Staates in Wien, und der Romancier und Politiker Antin Krušel´nyckyj, der ehemalige Bildungsministers der Ukrainischen Volksrepublik. Sein Sohn Ivan, ein junger, begabter Dichter, knüpfte in Wien Kontakte mit dem österreichischen Dichter Hugo v. Hofmannsthal an,73Vgl. Stefan Simonek, Hugo von Hofmannsthals galizische Implikationen: Österreichisch-ungarisch-mitteleuropäische literarisch-kulturelle Begegnungen, Hg. István Fried, Szeged 2003, S. 45-66. ein Beweis dafür, dass auch diese Emigration die Integration ukrainischer Intellektueller nach Mitteleuropa förderte. Das bleib auch dann der Fall, als viele der ukrainischen Emigranten in den frühen 1920er Jahren nach Prag weiter wanderten (allen voran die Freie Ukrainische Universität, die schon 1921 nach Prag übersiedelte), wo es unter Präsident Masaryk bessere Bedingungen für Emigranten aus Osteuropa gab.

Ein zweites Mal sollte sich die ukrainische Emigration nach Österreich und damit verbundene Erscheinungen der verstärkten Integration ukrainische Kulturschaffender nach Mitteleuropa nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wiederholen. Nun mieden die meisten der ukrainischen Emigranten Wien, weil diese Stadt in vier Sektoren, darunter auch einen sowjetischen, aufgeteilt war; viele ukrainische Emigranten aus der Zeit vorher wurden, wie auch der erwähnte Wilhelm von Habsburg, von den Sowjets verschleppt, kamen in der Sowjetunion ums Leben oder erst nach langen Haftstrafen wieder zurück.74So etwa der bekannte Arzt Markijan Dzerowycz, der in der Zwischenkriegszeit in Lemberg Präsident der Katholischen Aktion gewesen war; er wurde noch im Mai 1945 von den Sowjets verschleppt und kam erst nach dem Österreichischen Staatsvertrag 1955 wieder nach Wien zurück; seine Gesundheit hatte im Lager schwer gelitten, er starb 1965. Angaben nach seiner Schwester, Maria Ostheim-Dzerowycz, Interview im Jahr 2021, Wien. Es wundert also nicht, dass sich die ukrainischen Flüchtlinge in Lagern für Displaced Persons (DP) in der amerikanischen und französischen Besatzungszone fanden. Die größte Zahl an solchen Lagern, die zwar nicht ausschließlich, aber vorwiegend von ukrainischen Flüchtlingen bewohnt wurden, fand sich in Salzburg, wo in vier Barackenlagern mehrere Tausend Ukrainer untergebracht waren.75Eine ausführliche Schilderung eines dieser Lager, Lexenfeld, stammt von einem ehemaligen Bewohner, der nach den USA ausgewandert ist. Vgl. Ф. Лукіянович, Український табір Лексенфедьд у Зальцбурзі, в: Almanach of the Ukrainian National Association for the year 1986, Jersey City-New York: Svoboda Press, p. 65-110. Dazu kamen Lager im nahegelegenen bayrischen Berchtesgaden (in der kleinen Gemeinde Strub nahe bei der Stadt), sowie in Landeck in Tirol und in Feldkirch, Vorarlberg. Auch in diesem Lagern entfaltete sich ein reges kulturelles Leben – Kirchen und Schulen wurden unterhalten, wie z.B. ein ukrainisches Gymnasium in einem der Salzburger Lager, Chöre und Künstlergruppen gegründet, Zeitschriften herausgegeben und Bücher gedruckt. Leider ist das meiste, was in den in den Lagern angesiedelten Verlagen erschien, nicht mehr erhalten, man kann nur aus Bibliographien76Vgl. Богдан Романенчук, Бібліограія видан української еміґраційної літератури 1945-1970 / Bohdan Romanenchuk, Bibliography of Ukrainian Emigre Literature 1945-1970, Philadelphia: Kyїv Publishing, 1974. oder Reklameeinschaltungen in erhaltenen Publikationen77Vgl. Літаври. Літературно-мистецький і науково-популярний місячник. Ч. 1 – 4/5, 1947, Зальцбург: Нові Дні, Бібліографія. darauf schließen.

Im Verlag „Novi Dni“, der auf dem Gelände des Salzburger Lagers Lexenfeld tätig war, erschienen im Jahr 1947 auch vier Nummern der literarischen Zeitschrift Litavry,78Eine Zeitschrift gleichen Namens wurde in Kyjiv 1941 von er bekannten Dichterin Olena Teliha herausgegeben. die vom bekannten Dichter und Übersetzer Oswald Burghardt (1891-1947) herausgegeben wurden. Burghardt selbst, ein Wolhynien-Deutscher, der in Kyjiv aufgewachsen war und sich unter dem Namen Jurij Klen der Gruppe der Kyjiver Neo-Klassiker angeschlossen hatte, war schon in der Zwischenkriegszeit in Münster als Lektor an der Universität tätig; mit seinen zahlreichen Arbeiten zu ukrainischen Literatur in deutscher Sprache, vor allem aber seinen Übersetzungen ukrainischer Lyrik ins Deutsche gehört er zu den großen Vermittlern zwischen der Ukraine und Deutschland.79Vgl. Rolf Göbner, Ukrainische Emigrationsschriftsteller und -wissenschaftler im Deutschland der Weimarer Republik. Eine Bestandsaufnahme, in: Polen unter Nachbarn. Polonistische und komparatistische Beiträge zu Literatur und Sprache. XII. Internationaler Slawistenkongreß in Krakau 1998. Hg. v. H. Rothe u. P. Thiergen, Köln-Weimar-Wien: Böhlau, S. 395-416, hier: 414ff. Seit den letzten Kriegsjahren war Burghardt wieder im Exil, pendelte zwischen Innsbruck, wo er an der Universität lehrte, Augsburg und Salzburg, wo er die erwähnte Zeitschrift herausgab, in der er auch sein letztes großes Poem, Popil imperij, publizierte. Mit seinem frühen Tod 1947 wurde auch diese Zeitschrift, eines der anspruchsvollsten Periodika der Emigration, eingestellt.

Auch die zweite ukrainischen Emigration blieb, was den größten Teil der Migranten betrifft, nicht lange in Österreich, ab 1947 konzentrierte sich die Emigration in Süddeutschland Augsburg und München, um dann vor dort weiter nach Übersee zu ziehen. Dennoch hat auch ein relativ kurzer Aufenthalt in Österreich in der Biographie vieler Emigranten Spuren hinterlassen. Ein Beispiel dafür ist die Person von Großerzbischof Ljubomyr Huzar (1933-2017), Metropolit der Griechisch-katholischen Kirche von 2000-2011, der in seiner Jugend zwei Jahre lang mit seinen Eltern in einem Salzburger Lager lebte und dort das ukrainische Gymnasium besuchte. Nicht nur hervorragende Deutschkenntnisse brachte der Metropolit aus dieser Zeit mit, sondern auch die Vertrautheit mit der mitteleuropäischen kulturellen Welt, die sein weiteres Leben prägte.

Seit dem Frühjahr 2022 gibt es eine neue, dritte Welle der ukrainischen Emigration in Wien und ganz Österreich. Einmal mehr sind vor allem Frauen und Kinder gekommen,80Eine Reihe von eindrucksvollen Berichten von Frauen, die mit ihren Kindern nach Österreich gekommen sind, wurden bereits publiziert: Я в Австрії з Україною в серці Відень: Zentrum Ukrainischer Forscher:innen, 2023. die Männer stehen im Krieg gegen eine russische Aggression, die einmal mehr die Existenz des ukrainischen Volkes und seines Staates bedroht. Einmal mehr bringen ukrainischer Migranten ihre Sprache, Kultur und Lebenserfahrung in ein mitteleuropäisches Land, wo diese auf eine andere, teils vertrauten, teils aber auch unbekannte Kultur und Zivilisation trifft. Einmal mehr bedeutet auch diese Migration, vor allem, was den Großteil der Flüchtlinge betrifft, die aus der stark russifizierten Ostukraine stammen, eine Integration nach Europa, die auch dann ihre Spuren hinterlassen wird, wenn viele der Geflohenen, ihrem Wunsch entsprechend, wieder in ihre Heimat zurückkommen werden.